Katrin von Mengden-Breucker über Bergzitate und das „Bergschreiben“

– SBnet im Austausch mit Katrin von Mengden-Breucker und Marius Breucker, den Herausgebern von bergzitat.de –

Sie steigen und schreiben über Berge und geben mit „bergzitat.de“ eine bemerkenswerte Seite zur Bergliteratur heraus. Katrin von Mengden-Breucker und Marius Breucker lieben nicht nur die Natur der Berge, sondern auch deren Kultur, nicht nur die Exkursion, sondern auch deren literarische Rezeption. SBnet unternahm eine „Litera-Tour“ und tauschte sich mit den bergliteraturbegeisterten Stuttgartern über die besondere Verbindung von Bergen und Zitaten aus.

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SBnet: Frau von Mengden-Breucker und Marius Breucker, auf „bergzitat“ versammeln Sie Texte und Hintergründe zur Bergliteratur – gehören Berge und Literatur zusammen?

Katrin von Mengden-Breucker: Die Berge kommen ganz gut ohne Literatur aus und auch die Literatur bedarf der Berge nicht. Aber unsere Wahrnehmung der Berge ist literarisch geprägt, und die Berge inspirieren Schriftsteller zu Texten, die es ohne Berge nicht gäbe.

SBnet: Bergliteratur boomt seit einigen Jahren – haben sich Berge und Literatur gerade erst so richtig entdeckt?

Katrin von Mengden-Breucker: Bergbücher sind populär und bisweilen auch inflationär, etwa wenn zum gleichen „Bergdrama“ noch der fünfte „Augenzeugenbericht“ veröffentlicht werden muss. Die Beziehung von Bergen und Literatur ist aber älter und tiefer, denn erst mit der Literatur traten Berge in das menschliche Bewusstsein, wurden gedanklich und tatsächlich begreifbar. Die Literatur ermöglichte und formte unser heutiges Bild der Berge und damit auch das moderne Bergsteigen. Sie ist gleichsam der Steigbügelhalter des Alpinismus.

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SBnet: Wie kam das?

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Für die Menschen waren Berge ursprünglich unnahbare und unüberwindliche Hindernisse. Sie waren Sitz von Dämonen und Göttern, mystische Orte, die verehrt und gefürchtet, aber nicht bestiegen und beschrieben wurden. Das änderte sich – soweit wir wissen – nachhaltig erst im Mittelalter. Dort finden wir erste, zunächst zaghafte Annäherungen an die Berge. Mit ersten freiwilligen Bergbesteigungen begannen die Menschen, ihre Furcht vor den Bergen abzulegen. Bergsteigerberichte vermittelten das Erlebte auch den unten Gebliebenen. Bis sich schließlich eine nicht zuletzt von den Berichten geprägte Kultur des Bergsteigens entwickelte. Und diese bringt jetzt ihrerseits wieder eine eigene Bergliteratur hervor.

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SBnet: Die Furcht wurde hinweg und die Kultur herbeigeschrieben…

Katrin von Mengden-Breucker: Ja, mit vielen Facetten und Auswüchsen. Aber im Groben kann man schon eine Entwicklung erkennen: Vom ursprünglichen Beobachten und Beschreiben zum Begreifen und Besteigen. Heute wirken die Berge weniger bedrohlich, aber nicht unbedingt weniger mystisch: Jede Tour kann zu Literatur inspirieren, dann führt das Bergsteigen zum „Bergschreiben“…

 

SBnet: Die Literatur als Brennglas, durch das wir die Berge besser erkennen?

Marius Breucker: Natürlich prägen nicht nur Texte, sondern auch andere Medien, namentlich Bilder unsere heutige Sicht der Berge; kulturhistorisch aber begann die Begegnung mit den Bergen mit den ersten Berichten und das prägt unsere Wahrnehmung bis heute. Das Eigentümliche des Bergsteigens – die herausfordernde Begegnung mit der Natur und oft genug mit dem eigenen Ich – lässt sich in der Literatur wie in kaum einem anderen Medium spiegeln. Und die Literatur schafft wiederum eine Ebene, die das Bergsteigen als ein auch kulturell und metaphysisch geprägtes Handeln jenseits rein sportlicher Aktivität erscheinen lassen. Nicht umsonst sind Bergsteiger und Literaten wesensverwandt.

SBnet: Bergsteiger und Schriftsteller – unterschiedlicher geht es doch kaum?

Katrin von Mengden-Breucker: Ja, nach Klischee ist der Bergsteiger der derbe, zupackende Tatmensch, der Schriftsteller der feinsinnige, weltabgewandte Intellektuelle. Es mag ja diese Prototypen auch tatsächlich geben, wobei dies Berührungspunkte ja nicht ausschließt. Bei näherer Betrachtung gibt es viele Überschneidungen, sowohl persönlich – also schreibende Bergsteiger und steigende Schriftsteller -, als auch und vor allem in der Sache: Die Tätigkeiten sind viel enger verwandt als es auf den ersten Blick scheint.

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SBnet: Worin liegen die Gemeinsamkeiten?

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Im Wesentlichen in einer spezifischen Perspektive zum eigenen Ich: Der Schriftsteller muss in sich hineinhorchen, um Erlebnisse und Empfindungen in der Sprache lebendig werden zu lassen. Auch der Bergsteiger blickt beim Steigen in sein Inneres. Die Einsamkeit des Berges macht uns mit uns selbst bekannt – ob wir wollen oder nicht. In gleicher Weise muss der Schriftsteller, wenn er authentisch sein will, mit sich und mit den von ihm geschaffenen Charakteren vertraut werden.

SBnet: Also greift der Antagonismus zwischen Bergsteigen als körperlicher und Literatur als geistiger Tätigkeit zu kurz?

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Natürlich ist Bergsteigen zu aller erst ein körperlicher Vorgang. Wer schon einmal Erschöpfungszustände auf und nach einer Bergtour erlebt hat, weiß wovon die Rede ist. Und doch beschränkt sich das Bergsteigen nicht auf Physisches. Vielmehr sieht sich der Bergsteiger mit sich konfrontiert, wird auf sich selbst zurückgeworfen. Bergsteigen vermag innerlich Verborgenes zutage zu fördern, nicht immer zur Freude des „Entdeckers“. Zugleich weiten die Berge den Horizont und lenken den Blick auf die Rolle des Menschen in der Natur und damit zwangsläufig auf metaphysische oder – wenn man will – religiöse Fragen. „Wandern ist eine Tätigkeit der Beine und ein Zustand der Seele“, sagt Josef Hofmiller (deutscher Schriftsteller 1872 – 1933, Anm. d. Red.).

SBnet: Und der Literat?

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Ist geistig tätig, aber nicht nur: Jeder, der schon einmal mit einem Text gerungen hat, wird bestätigen, dass Schreiben körperlich anstrengend sein kann. Die gerne kolportierten Mythen von Texten, die über Nacht gleichsam von alleine aus der Feder geflossen sind, mögen für einzelne Genies und Sternstunden zutreffen, sicher aber nicht für das Gros der Literaten. Die meisten Texte, auch der Großen, sind das Ergebnis harter Arbeit, oft bis zur Erschöpfung. Nietzsche bezwang in seiner Engadiner Klause seine Müdigkeit mit eiskalten Fußbädern, um weiterschreiben zu können.

SBnet: Dass sich Körperliches und Seelisches beeinflussen gilt aber doch nicht nur fürs Bergsteigen – worin liegt der Unterschied etwa zum gewöhnlichen Sport?

Katrin von Mengden-Breucker: Wer an körperliche Grenzen geht, lernt oft auch seine seelischen kennen. Edmund Hillary sagte: „Es ist nicht der Berg, den wir bezwingen – wir bezwingen uns selbst“. Das gilt sicher nicht nur für das Bergsteigen; man kennt das etwa auch von Langstreckenläufen. Der Bergsteiger wird aber auch dann, wenn er nicht an den Rand seiner Kräfte gehen muss, mehr als beim „normalen“ Sport mit sich selbst konfrontiert. Das liegt an der Einsamkeit in den Bergen ohne zivilisatorische und soziale Ablenkung und sicher auch am Naturerlebnis, der Begegnung mit der Urgewalt, die uns überwältigt und neue Perspektiven vermittelt.

SBnet: Müssen wir klein werden, um inne zu halten und unser Selbst gewahr zu werden?

Marius Breucker: Die Begegnung mit den Bergen als Archetypen der Natur, mit ihrer Wucht und ihrer Schönheit löst meist eine gewisse Demut aus. Wer sich darauf einlässt, den Blick und die Seele öffnet und sich als Teil der überwältigenden Natur empfinden kann, wird nicht kleiner, eher im Gegenteil: Bestenfalls fühlt er den Einklang mit der Natur und nimmt einen Teil ihrer Größe in sich auf – und kehrt innerlich gestärkt zurück. Demut ist etwas anderes als Kleinmut.

SBnet: Gilt dies auch für Extrembergsteiger und Speedkletterer, die binnen Stunden auf einen Gipfel und wieder hinunter rennen?

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Viele Speedkletterer haben mit klassischen Bergtouren angefangen und sind Bergsteiger im besten Sinne. Man kommt ja in der Regel nicht als Speedkletterer zur Welt, sondern beginnt mit dem Bergsteigen, wird im Laufe der Zeit schneller und sieht irgendwann nicht mehr nur den Berg, sondern auch die Zeit als Herausforderung. Wem es nur auf Geschwindigkeit ankommt, der setzt natürlich andere Schwerpunkte. Man muss sich und den Bergen schon ein wenig Raum und Zeit und dem eigenen Ich die Chance geben, sich zu öffnen – oder wie es bei Eichendorff heißt: die Flügel der Seele auszuspannen. Wer die Antennen nicht ausfährt, wird weniger empfangen.

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SBnet: Aus Naturerlebnis und Selbsterkenntnis entsteht aber noch nicht zwangsläufig Literatur.

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Nein – und das muss ja auch nicht sein. Naturerlebnis und Innenschau sind aber nicht die schlechtesten Voraussetzungen für Literatur. Das Bergerlebnis kann für Schriftsteller sehr fruchtbar sein. Percy Bysshe Shelley (englischer Dichter 1792 – 1822, Anm. d. Red.) brachte dies im Angesicht des Mont Blanc im Stile der Romantik zum Ausdruck: „Was wärst Du, was wär Erde, Meer und Stern, | Wenn nicht des Menschen Phantasie empfinge | Die Einsamkeit, des Schweigens Kern.“ Also: Erst schweigen, dann schreiben. Viele ließen sich so in und von den Bergen inspirieren, und es ist sicher kein Zufall, dass viele Literaten in die Berge gingen.

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Von nach Amelia Curran – National Portrait Gallery: NPG 1234
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SBnet: Beispiele?

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Herman Hesse liebte die Alpen und verglich die Konturen der Berglandschaft mit den Rhythmen eines Gedichtes. Max Frisch überquerte die Alpen im Alleingang und publizierte seine Erlebnisse und Gedanken feuilletonistisch und Goethe stieg bei seinen Schweizer-Reisen zweimal auf den Gotthard-Pass. Friedrich Nietzsche schuf bei seinen Spaziergängen durch das Engadin mit „Zarathustra“ den berühmtesten Bergsteiger der Philosophie. Man muss aber nicht Bergsteiger sein, um über Berge zu schreiben. Schiller war nie in den Bergen und schrieb mit „Wilhelm Tell“ doch das Schweizerische Bergdrama schlechthin.

SBnet: Und Sie versammeln all diese auf bergzitat.de – man würde dort eher abenteuerliche Tourenberichte vermuten.

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: `bergzitat` bringt beides – ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Zitate berühmter Bergsteiger wie George Mallory oder Peter Habeler, Zitate aus Bergsteigerberichten wie Jon Krakauers berühmtem „In eisige Höhen“ über das Drama am Mount Everest im Jahr 1996 und Christian Kluckers „Erinnerungen eines Bergsteigers“ aus der Frühzeit des Alpinismus; aber auch die in den Bergen entstandenen Gedanken eines Friedrich Nietzsche oder Schillers „Berglied“. Zugleich finden sich zeitgenössische Schriftsteller wie Mats Brendeker oder der Schweizer Emil Zopfi, der in „Dichter am Berg“ die Verbindung von Schreiben und Steigen eindrücklich beschreibt und anhand zahlreicher Schriftstellerbiografien veranschaulicht.

Die Nordseite vom Weg zum Basislager aus gesehen
Von I, Luca Galuzzi, CC BY-SA 2.5, Link

SBnet: Auch Theodor Storm haben wir gefunden, bei dem man auf den ersten Blick kaum an Berge denkt?

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Ja, Theodor Storm oder Johannes Trojan sind gleichsam Zufallsfunde am Wegesrand. Sicherlich keine klassische Bergsteigerliteratur, aber sie zeigen charakteristische Landschaftsskizzen, wie sie nur beim Wandern durch Berglandschaften entstehen. Die Seite gleicht also selbst einer Wanderung durch ganz unterschiedliche Gebiete und will nicht katalogisieren oder gar belehren, sondern anregen.

SBnet: Dabei geht es bis zurück ins Mittelalter.

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Die Anfänge des Bergsteigens und der Bergliteratur sind spannend und vermitteln uns heute noch Einblicke in den besonderen Charakter der Berge und des Bergsteigens. Dabei muss man sich der Beschränktheit unserer (Er-) Kenntnisse bewusst sein: Was wir aus der Vergangenheit wissen – etwa der erste mittelalterliche Bericht von Paulus Diaconus Ende des 8. Jahrhunderts über die Bergbesteigung König Alboins im Jahr 568 n. Chr. – sind nur Schlaglichter. Und doch ist es spannend zu sehen, wie sich der Mensch den anfänglich gefürchteten und mystisch verehrten Bergen nach und nach näherte – gedanklich und tatsächlich.

SBnet: Berggeschichte als ein Stück Kulturgeschichte?

Katrin von Mengden-Breucker & Marius Breucker: Durchaus. In der veränderten Wahrnehmung der Berge spiegelt sich die Entwicklung des menschlichen (Natur-) Bewusstseins und die allmähliche Ausprägung einer Kultur des Bergsteigens. In diesem Sinne markiert etwa der Bericht Francesco Petrarcars von der Ersteigung des Mont Ventoux im Jahr 1336 eine kulturhistorische Zäsur: Erstmals ist eine freiwillige Besteigung des Berges aus Interesse und Neigung dokumentiert. Darin sehen viele die Geburtsstunde des heutigen Bergsteigens und des Alpinjournalismus.

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SBnet: Zum Abschluss: Ihr Lieblingsbergzitat?

Katrin von Mengden-Breucker: Jeden Tag ein anderes.

SBnet: Ihr heutiges?

Katrin von Mengden-Breucker: Schön finde ich Soren Kierkegaards „Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen und kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann.“

Marius Breucker: Und ein gern zitierter Klassiker ist natürlich Edmund Hillarys: „Es ist nicht der Berg, den wir bezwingen – wir bezwingen uns selbst.“

SBnet: Vielen Dank, Frau von Mengden-Breucker und Marius Breucker.

Christine Sarakinis Schriftstellerinnen und Dichterinnen im Russland des 19. Jahrhunderts Kapitel 3. Schriftstellerinnen und Dichterinnen bis zur Jahrhundertmitte

Kapitel 3. Schriftstellerinnen und Dichterinnen bis zur Jahrhundertmitte

Schon zuvor hatte es einzelne Texte von schreibenden Frauen gegeben, ab 1780 jedoch begann sich C. Kelly zufolge eine regelrechte Tradition von Schriftstellerinnen herauszu bilden. F. Göpfert sieht einen Anstieg von Frauenliteratur bereits ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Er hält hierbei gerade die Art der an den Instituten vermittelten humanistischen Bildung für die Voraussetzung, dass Frauen ihre literarischen Tätigkeiten überhaupt aufnehmen konnten. 15

 

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war in Russland durch die verbesserten Bildungsmöglichkeiten im 18. Jahrhundert auch für die Mittelschicht ein neues Leserpotential entstanden. Literatur wurde nun zu einer Handelsware mit Angebot und Nachfrage, und der Zugriff zum Buch demonstrierte die Gesellschaftsfähigkeit. Dies stellte die russische Leserschaft vor das Problem der verfügbaren Literatur: Es gab keine eigenständige russische Literatur in dem Maße, wie plötzlich die Nachfrage danach erforderlich machte. 16

 

Der wesentliche Grund dafür lag in dem Status des Dichterberufes: Er begann sich als öffentliche Institution gerade erst zu entwickeln und war mit massiven Vorurteilen belastet. Im Hochadel galt es als unter der Würde, sich als Schriftsteller in der Öffentlichkeit darzustellen. Dichter und Schriftsteller aus weniger begüterten Schichten wiederum konnten mit der Literatur nicht ihren Lebensunterhalt verdienen. 17

Dies erklärt sicher auch die Tatsache, dass schreibende Frauen vor allem aus dem ländlichen und niederen Adel hervorgingen, nicht aus dem Hochadel. Sie hatten eine gewisse Bildung und eine privilegierte Position, die ihnen den finanziellen Rückhalt bot, waren aber nicht so stark im Standesdenken gefangen wie die Frauen aus dem Hochadel. Außer als Schöpferinnen eigener Dichtkunst und Prosa, fanden sie ein weiteres Tätigkeitsfeld in der Übersetzung, da auch der Bedarf an Übersetzungen westeuropäischer Literaturen zugenommen hatte. So wurde ein großer Teil der in Zeitschriften erscheinenden ausländischen Literatur von Frauen übersetzt. 18

Gegenüber dem 18. Jahrhundert verbesserte sich bis etwa 1826 langsam die öffentliche Situation schreibender Frauen. Sie fanden Anerkennung in der literarischen Öffentlichkeit und konnten sich
zunehmend unabhängiger von ihrem gesellschaftlichen Stand auch öffentlich bewegen. 19

Zur Entwicklung der schriftstellerischen Tätigkeit von Frauen stellt C. Kelly stellt zwei Hypothesen gegenüber: Nach der ersten Hypothese sei der langsame, aber stetige Prozess der Befreiung der Frauen von ihrer rechtlichen, gesellschaftlichen und familiären Diskriminierung einhergegangen mit einer langsamen aber ständigen Verbesserung ihrer schriftstellerischen Leistungen, die ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts beträchtlich an Stärke und Selbstvertrauen gewonnen hätten. 20

Die zweite Hypothese ignoriert die Beweiskraft von Frauenliteratur für oder gegen einen Fortschritt der Frauenemanzipation. Ihrer Aussage nach hätten Frauen nur in der Puschkin- Ära, im sogenannten „Goldenen Zeitalter“ der Literatur ernsthaft geschrieben und wären davon inspiriert gewesen.

Kelly betont aber, dass wenngleich die Frauenliteratur in den 30er und 40er Jahren Teil einer literarischen Tradition, die von Puschkin und anderen Schriftstellern geprägt worden war, gewesen sei, ihr doch insgesamt keine marginale Rolle zukomme. Obwohl sie sich mit den Arbeiten ihrer männlichen Kollegen beschäftigt hätten, hätten die Arbeiten der Frauen ihre eigene inhärente Logik besessen. 21

 

18 C. Kelly, S. 20, S. 23 und B. Alpern Engel, S. 19.
19 F. Göpfert, S. 25-27.
20 C. Kelly, S. 21f.
21 Ebd., S. 23.

3.1 Themen der Frauenliteratur

Bevor im nächsten Kapitel an einzelnen Beispielen die Entwicklung der von Frauen geschriebene Literatur bis zur Jahrhundertmitte aufgezeigt werden soll, wird hier der Versuch unternommen, einen kurzen Überblick über die Themen der Schriftstellerinnen und Dichterinnen in diesem Zeitraum zu geben.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Literatur der Dichterinnen und Schriftstellerinnen nicht auf das eigene Geschlecht gerichtet. Sie waren an den kanonisierten Literaturformen orientiert, die Gegenwartsprobleme nicht thematisierten. 22

Männliche Autoren waren in ihren Themen und Zielsetzungen frei. Von Frauen, die sich der Schriftstellerei zuwandten, wurde erwartet, dass sie als Frauen im Sinne der „moralischen Verfeinerung der Nation“ schrieben. 23

Viele Themen der Frauen bis zum Ende der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts bezogen sich auf klassische Kunstideale und standen damit immer mehr abgegrenzt einer Literatur gegenüber, die sich mit Gesellschaftsutopien auseinandersetzte. Sie bezogen ihre Gefühle und Gedanken vor allem aus der Kunst und erreichten in ihrer Ausdruckskraft ein anerkannt hohes Niveau, blieben aber im Umgang mit der Realität stark in ihrer eigenen, engen Lebenswelt verhaftet. 24

In den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts war ein verbreitetes Thema der Frauenliteratur der Widerspruch zwischen Liebe und Vernunftehe. Noch immer war es ein gängiger Brauch im russischen Adel, die Töchter mit einem Mann ihres Ranges zu verheiraten.

Auch wenn sie nach den Russischen Gesetzen offiziell nicht in eine Ehe gezwungen werden durften, so widersetzten sich nur wenige dem Wunsch ihrer Eltern meist kannten sie diesen Code der Gesetze gar nicht. Viele unglückliche Ehen waren die Folge, unter denen die Frauen litten, ohne den Ausweg einer Scheidung hätten nehmen zu können. Scheidung war so gut wie unmöglich. Umso wichtiger war dieses Thema für die Frauen. 25

Mit dem Ende der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts an begannen einzelne Frauen, sich einer sozialkritischen Literatur zuzuwenden und die Lage der Frau in der russischen Gesellschaft in ihren Schriften zu thematisieren.
Sie standen damit im Kreuzfeuer eines politischen Kontextes, der zu dieser Zeit die russische Literatur erfasste und Bewegungen und Gegenbewegungen auslöste. 26

Die Mehrzahl der schreibenden Frauen fühlte sich jedoch noch stark den Traditionen verpflichtet und thematisierte deshalb in ihren Werken, was Frauen seit Jahrzehnten thematisierten: ihre Unfreiheit einerseits und ihr elementares Bedürfnis nach Liebe, Zuneigung und einer gleichberechtigten Ehe andererseits. 27

22 F. Göpfert, S. 47.
23 B. Alpern Engel, S. 19.
24 F. Göpfert, S. 67f., S. 103.
25 R. Stites, S. 6 und F. Göpfert, S. 68 und B. Alpern Engel, S.21 und 34.
26 F. Göpfert, S. 107f.
27 C. Kelly, S. 22 und F. Göpfert, S. 109.

 

Ein weiteres Kapitel finden Sie hier:

Christine Sarakinis: Schriftstellerinnen und Dichterinnen im Russland des 19. Jahrhunderts Kapitel 2. Die Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

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